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Schwäne

Sandra

Sandra

180 GRAD IN KÜRZESTER ZEIT

6 Uhr … es klingelt kein Wecker. Es ist Sonntag und dennoch bin ich wach. Diese verdammte innere Uhr. Wenn ich das nur unter der Woche mal hätte, vermutlich kennen dieses Phänomen viele. Müssen wir aufstehen, möchten wir schlafen, können wir schlafen….stehen wir auf. Also ziehe ich mich an, mache mir einen Kaffee, fülle ihn in eine to-go Flasche, springe ins Bad, schnappe mir meine Autoschlüssel und verlasse das Haus.

Es ist dunkel und tatsächlich sehr kalt. Ich fahre los. Ich war schon lange nicht mehr am Federsee. Ich hatte es mir für dieses Wochenende spontan vorgenommen, wenngleich auch nicht unbedingt bereits morgens um halb 7 Uhr.

Aber was solls?

Die Strassen sind leer, es liegt Nebel über allem, mein Radio spielt leise melanchonische Töne und ich fahre einem langsam erwachenden Tag entgegen. Als ich ankomme, ist der Parkplatz fast leer. Ein paar Camper im hinteren Bereich. Ansonsten  – kein Mensch zu sehen. Es ist etwas heller geworden, in wenigen Minuten sollte die Sonne aufgehen, aber ich stehe in dickem Nebel und mache ich auf den Weg.

Ich friere und frage mich, ob es klug war, nur einen Hoodie anzuziehen. Hallo? Es ist September, nun gut Ende September, aber trotzdem! Wann ist es so kalt geworden? Es ist diese Kälte, die man zuerst an Händen und im Gesicht spürt, die man am Atem deutlich erkennen kann und die mich frösteln lässt. Unwillkürlich laufe ich etwas schneller, als hätte ich das Bedürnis mich auf Temperatur bringen zu wollen.

Der Holzsteg schlingelt sich durch das Moor. Ich war oft hier, er ist mir vertraut. Dennoch sucht mein Auge im Nebel die nächste Biegung. Ich zwinge mich das Tempo zu drosseln, als ich die erste grosse Biegung hinter mir habe. Von Weitem erkenne ich linksseitig die kleine Aussichtsplattform. Fotografen. Um diese Uhrzeit? Ich schmunzel über meinen Gedanken, früher hätte ich gut einer von Ihnen sein können. Sie stehen da mit Ihren riesigen Objektiven und versuchen den ein oder anderen Vogel vor die Linse zu bekommen. Gut, ich gestehe, diese Art der Fotografie hat mich nie wirklich gereizt. Was nicht bedeutet, dass ich nicht zu den unmenschlichsten Zeiten mit meiner Kamera los gezogen wäre. Heute ist dies selten geworden. Ich habe lange mit mir gehadert, dass dieser Drang nicht mehr da ist, habe mich hinterfragt, an mir gezweifelt – heute kann ich es aktzeptieren. Alles hat seinen Platz und seine Zeit.

Ich entscheide mich, nicht zur Plattform zu gehen, sondern weiter geradeaus zu laufen. Der Nebel löst sich langsam auf. Die Lichtstimmung verändert sich und ich beobachte es.

Plötzlich bemerke ich, dass das Schilf rechts und links anders aussieht als sonst. Normalerweise ist es hoch, die Halme scheinen sich stolz in die Höhe zu strecken, so dass man im Grunde kaum sehen kann, was sich links und rechts vom Steg dahinter verbirgt. Heute sieht es niedergeschlagen aus, es ist viel weniger hoch, was den Blick auf das Dahinter frei gibt. Es herrscht eine Stille die erdrückend und heilend gleichzeitig ist, man hört nichts, ausser rechts und links im Schilf ein leichtes Gluggern. Aber das Schilf an sich ist bereits nicht mehr so saftig grün, es schimmert an allen Ecken an den Spinnwebennetzen die sich offensichtlich an jedem einzelnen Schilfhalm eingenistet haben. Es sieht ein wenig müde, traurig und trostlos aus, als hätte das Schilf seinen Dienst für dieses Jahr quittiert. Als wolle es sagen, die Saison ist vorbei. Der Sommer ist vorbei. Das Jahr…

Ich erwische mich, wie ich denke, dass auch ich gewillt bin, das Jahr gehen zu lassen. Was für ein Quatsch Ende September. Gleichzeit verspüre ich eine Schwere, die letzen Wochen waren Kräfte zerrend. Lange Tage. Schmerzen. Klar, es gibt noch den ein oder anderen schönen Plan für dieses Jahr, aber eigentlich könnte es auch rum sein, oder?

Als wäre es der Garant dafür, dass das nächste besser wird…

Ich trinke einen Schluck von meinem Kaffee, der mich für einen kleinen Moment wärmt und laufe weiter.

Hin und wieder steht ein Fotograf am Rand und man grüsst sich freundlich im Vorbei gehen. Und ich hoffe innerlich, dass ich Ihre Beobachtungen nicht störe. Als ich langsam am Ende des Steges ankomme sind da zwei Schwäne, sie sind am Fressen, tauchen ab und wieder auf, immer in der Nähe des anderen bleibend. Ich erinnere mich, dass ich einmal gelesen habe, dass Schwäne absolut monogam leben und ihr ganzes Leben mit ein und dem selben Partner verbringen. Es wurde sogar von Forschern nachgewiesen, dass es Schwäne gibt, die gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben. Weibliche Schwäne hatten demnacht nur zu Vermehrungszwecken Sex mit Ihren Artgenossen und haben die Jungen dann mit Ihrer Partnerin aufgezogen. Mich überkommt der Gedanke, dass es so einfach sein könnte und die Tierwelt durchaus Dinge vorweist, die wir Menschen adaptieren sollten, könnten…

Als ich am Ende vom Steg ankomme, bin ich allein. Niemand da, kein Fotograf, niemand. Aber die Sonne ist plötzlich da, noch immer ein wenig im Nebel, der noch immer in Schwaden über den See zieht. Im Licht der wärmenden Sonne leuchtet alles in warmen Tönnen. Meine Gänsehaut verschwindet, ebenso wie die Verspannungen zwischen den Schultern. Schmerzfrei? Nein, aber spürbar entlastet für einen kleinen Moment. Dankbarkeit.

Ich geniesse es, wie sich das Bild um mich herum minütlich ändert. Es wird heller. Freundlicher. Wärmer. Die Sonne kämpft sich durch, als wolle sie das Dunkel und die Kälte vertreiben, einen neuen Tag einleuten. Neue Gedanken, Mut und Hoffnung mit sich bringen und die Situation zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht.

Ich friere nicht mehr.

Plötzlich merke ich, dass es voller wird. Es kommen mehr und mehr Menschen. Keine schweigenden Fotografen, es sind Paare und Familien mit Kindern. Sie diskutieren, Lachen, machen Spässe oder unterhalten sich unüberhörbar über Geschehnisse der letzten Woche. Ohne Rücksicht. Es ist Zeit zu gehen, also mache ich mich auf den Rückweg.

Vorbei an den noch immer durchhaltenden Fotografen, man nickt sich schweigend zu.

Ich lächle noch immer. Ich freue mich auf den Heimweg und plane mir ein Croissant zu gönnen und den Tag für mich zu genießen. Den Tag. Vielleicht auch den Rest vom Jahr – vielleicht ist das Jahr noch nicht vorbei. Und vielleicht sind Schwäne die smartesten Lebewesen, denen ich heute begegnen konnte…

Passt gut auf Euch auf!
Sandra

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